Von Antje Röckemann (1. Juni 2020)
„Woher kommst du?“ Werden Sie das manchmal gefragt? Oder fragen Sie bei Begegnungen mit Menschen, die Sie kennenlernen wollen, selbst danach?
Ich weiß oft nicht, was ich darauf antworten soll. Denn immer ist was anderes gemeint. Ist gemeint, wo ich geboren wurde? Oder will man wissen, wo ich zurzeit wohne? Oder wo ich aufgewachsen bin? Welche Orte mich besonders geprägt haben? Bei mir hießen die Antworten zurzeit: Bad Salzuflen, Wattenscheid, Hamm, Marburg und Berlin. Immerhin werde ich nicht gefragt, wo ich so gut Deutsch gelernt habe …
Denn die Frage nach „Wo kommst du (eigentlich) her?“ kann auch richtig nerven. Das habe ich mittlerweile verstanden – und verkneife mir daher selbst oft diese Frage, wenn ich Menschen begegne, bei denen ich eine vielseitigere Biografie als bei mir vermute.
Was sagen Herkunftsorte wirklich über einen Menschen aus? Und was bedeutet das schon, wenn die Antwort ist: aus Leipzig, aus Daressalam, aus Oslo, aus Damaskus. Es sagt mehr über mich aus und meine (oft begrenzten) Phantasien. Und ich will ja auch nicht mit allen, die wie ich in Hamm zur Schule gegangen sind, in eine Schublade gesteckt werden.
In der Bibel wird tatsächlich Hagar (die Zweitfrau Abrahams, so könnte man sie – nicht ganz richtig – in aller Kürze bezeichnen) danach gefragt. „Woher kommst du?“ Aber gemeint ist nicht ihr Geburtsort (vermutlich Ägypten), sondern in diesem Fall der letzte Aufenthaltsort – von dort ist sie nämlich in die Wüste geflohen.
Die zweite Frage, die Hagar gestellt wird, ist viel interessanter: „Wohin willst du?“ Sie wird von einem Boten Gottes nach ihren Wünschen gefragt.
„Wohin willst du?“ Diese Frage steht in den Projekten des Gender-Referates im Zentrum. Wir unterstützen Migrantinnen dabei, ihren beruflichen Weg zu finden. Natürlich ist dafür interessant, welche Erfahrungen, welche Kompetenzen sie bereits mitbringen – wo sie also herkommen. Aber sie werden nicht auf ihre Herkunft reduziert, sondern es geht um ihre Wünsche, ihre Träume, ihre Ziele – ihre Zukunft. Dabei wollen wir sie unterstützen.
Aus theologischer Sicht ist Herkunft ein ausgesprochen irrelevanter Begriff. Das wurde mir nochmal deutlich, als ich vor einigen Wochen über die Geschichte Hagars gepredigt habe und gleichzeitig das wunderbare, großartige, preisgekrönte Buch „Herkunft“ von Saša Stanišić gelesen habe. Mit seinem Buch macht er deutlich: Es ist ein Zufall, wo ich geboren wurde. Es ist ein Zufall, wohin ich fliehe.
Saša Stanišić fand Menschen, die ihn unterstützten, damit er – ein bosnischer Flüchtling – ein preisgekrönter deutscher Schriftsteller werden konnte.
Hagar übrigens wurde die erste Theologin in der Bibel. Und die Stamm-Mutter des Islam.
Auch eine bemerkenswerte Karriere. Ihre Geschichte steht in Genesis 16.
Das Bild ist ein Ausschnitt aus "Hagar und der Engel in der Wildnis" von Francesco Cozza, 1665. Das Bild ist gemeinfrei und gehört dem Rijkmuseum.
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